Blindenführhunde – Treue Helfer

Letzte Aktualisierung: 12. November 2024 Text: Helen Weiss

Blindenführhunde bringen sehbehinderten und blinden Menschen einen Teil der selbstständigen Mobilität zurück. Durch konsequentes Training werden dem Hund während seiner Ausbildung rund 30 Befehle beigebracht – dabei sind Vertrauen, Akzeptanz und Geduld die wichtigsten Voraussetzungen.

Treppen, Baugerüste und Verkehr: Für Blinde und Sehbehinderte ist der Gang durch die Innenstadt Basels ein wahrer Hindernislauf. Doch die blonde Labrador-Retriever-Hündin Heather absolviert den Übungsgang über die stark befahrene Kreuzung mit Bravour.

Gehorsam zeigt sie ihrer Instruktorin Sonya Ghenzi Trottoirränder beim Überqueren der Strasse an, legt den Kopf auf eine freie Sitzbank an der Bushaltestelle und bleibt geduldig auf der ersten Treppenstufe stehen, bis ihre Ausbildnerin ihr den Befehl zum Weitergehen gibt. Sie übersieht weder Hindernisse am Boden noch auf Kopfhöhe von Ghenzi. Das Team von der Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde Allschwil ist oft in der Stadt anzutreffen, um das Training in möglichst realem Umfeld zu absolvieren. Die knapp zweijährige Hündin steht kurz vor dem Ende ihrer Ausbildung: In Kürze legt Ghenzi mit ihr im Beisein eines Experten der Invalidenversicherung die Prüfung ab. Besteht das Gespann, wird Heather einer sehbehinderten oder blinden Person als Führhund übergeben. «Ich stehe bereits in Kontakt mit einer Interessentin. Heather wird sie übers Wochenende besuchen, damit sie sich kennenlernen können», erzählt Ghenzi. Damit sich das Team ein Hundeleben lang versteht, wird der Führhund passend zu seinem späteren Halter ausgesucht. «Dabei spielen Kriterien wie etwa die Wohn- und Lebenssituation eine Rolle, aber auch charakterlich muss das Team gut zusammenpassen», sagt Ghenzi.

Starke Bindung

Die 54-Jährige, die seit 18 Jahren als Instruktorin für Blindenführhunde tätig ist, verabschiedet sich von «ihren» Hunden jeweils mit einem lachenden und einem weinenden Auge. «Es ist von Beginn an klar, dass das Ziel der rund neunmonatigen Ausbildung darin besteht, den Hund in den Dienst eines Blinden zu stellen», sagt Ghenzi. Zudem sehe sie die Tiere immer wieder auf Inspektionsbesuchen, was den Abschied leichter mache. Der Hund, dessen Ausbildung rund 65’000 Franken kostet, bleibt im Besitz der Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde. Kann er aufgrund seines Alters seinen «Beruf» nicht mehr ausüben, wird er von der Schule an einen Pensionsplatz vermittelt, wo er seinen Ruhestand geniessen darf. Ghenzi: «Es gibt auch Führhundehalter, die sich nicht von ihrem Tier trennen und es bis zum Tod behalten möchten. Dann übernimmt die Stiftung die Kosten für Futter und Pflege.»

Um dem Hund die rund 30 Befehle beizubringen, braucht es ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Instruktorin und Hund. Spielen verstärkt die Bindung ebenso wie regelmässige Spaziergänge und intensives Training. Der Hund muss über einen grossen Arbeitswillen verfügen und in seinem so genannten «Freizeitverhalten» gemässigt sein. «Ein guter Appell etwa ist wichtig, denn die späteren Halter müssen mit ihrem Hund ohne Leine spazieren gehen und sich dabei darauf verlassen können, dass er gehorcht», erklärt Ghenzi.

Natürlicher Widerstand

Die soziale Bindung zwischen Mensch und Hund ist auch die wichtigste Voraussetzung für ein gut funktionierendes Führgespann. Der Aufbau einer gegenseitigen Vertrauensbasis ist besonders wichtig, deshalb wird das neue Team intensiv auf die «Partnerschaft» vorbereitet. Auch später steht Ghenzi als Instruktorin dem Führhundhalter mit Rat und Tat zur Seite. «Wir besuchen die Teams einmal jährlich und überprüfen den Umgang», so Ghenzi. Denn mit der Zeit schleichen sich kleine Fehler ein: Wenn der sehbehinderte oder blinde Halter nicht konsequent ist und die Befehle nicht regelmässig trainiert, kommt der Hund aus der Übung. «Die Tiere benötigen klare Befehle», sagt Ghenzi. Der Blinde leite den Hund mit Kommandos, deshalb könnten nur Menschen mit einem guten Orientierungssinn einen Führhund halten. Denn was aussieht wie eine Hexerei, ist allein durch konsequentes Training zu erreichen.

Der Blindenführhund sucht wunschgemäss Türen, Treppen, Zebrastreifen, Telefonzellen, Briefkästen oder freie Sitzplätze. Er zeigt das Gefundene an, indem er davor stehen bleibt. Für ein gut ausgebildetes Führgespann sind geparkte Autos, Baustellen oder Laternenpfähle daher kein Problem. Ghenzi: «Der Hund muss auch Hindernisse anzeigen und umgehen, die für ihn selbst keine sind.» Dazu wird der natürliche Widerstand mit positiver Bestätigung trainiert. «Wir ziehen den Hund gegen das Hindernis. Tiere reagieren wie Menschen auf Zug mit Gegenzug. Sobald sich der Hund sträubt, wird er gelobt.» Im Fall einer drohenden Gefahr – etwa im Strassenverkehr – muss der Führhund zudem in der Lage sein, einen Befehl ausnahmsweise zu verweigern. «Blindenführhunde müssen aus diesem Grund ein gutes Selbstbewusstsein und sicheres Wesen aufweisen», so Ghenzi.

Sorgfältige Auswahl

Entsprechend sorgfältig sind Zucht und Auswahl der Hunde, dabei wird das Augenmerk auf Nervenfestigkeit, Ausgeglichenheit, Lenkbarkeit, Gesundheit und auf das Wohlverhalten im Umgang mit Menschen gerichtet. «Labrador- Retriever eignen sich besonders gut, da die Rasse eine grosse Arbeitsfreude, eine hohe Anpassungsfähigkeit und ein freundliches Verhalten gegenüber Artgenossen und Menschen aufweist», sagt Ghenzi. Früher war der Deutsche Schäferhund zwar der klassische Führhund, heute werden jedoch zunehmend auch andere mittelgrosse Rassen wie Golden Retriever, Riesenschnauzer und Königspudel ausgebildet. Die Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde Allschwil züchtet seit einigen Jahren neben Labradoren auch so genannte «Golden-Labs», eine Mischung aus Golden- und Labrador-Retriever. «Im Gegensatz zum Labrador, der sich rasch langweilt, ist der Golden Retriever geduldiger und lenkbarer», weiss Ghenzi. In Patenfamilien werden die künftigen Führhunde in den ersten zwölf Monaten sozialisiert und mit alltäglichen Situationen konfrontiert. Sie kehren darauf in die Führhundeschule zurück, wo das eigentliche Training beginnt.

Führhunde für Kriegsblinde

Die Idee zur Ausbildung von Blindenführhunden entstand nach dem Ersten Weltkrieg; die steigende Zahl der Kriegsblinden führte zur Entstehung des Dressurgedankens. Bis dahin gab es nur vereinzelte Fälle der privaten Ausbildung von Führhunden. So richtete etwa der Schweizer Jakob Birrer seinen Spitz zum Führhund aus und berichtete 1847 in seinem Buch «Erinnerungen, besondere Lebensfahrten und Ansichten des Jakob Birrer» über seine Erfahrungen. Im August 1916 wurde die erste Blindenführhundeschule der Welt in Oldenburg gegründet. Sieben Jahre später entstand eine zweite Führhundeschule in Potsdam, die bahnbrechende Erfolge lieferte und zum eigentlichen Mekka der Führhundeausbildung wurde.

Die Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde in Allschwil wurde 1972 gegründet. In den 40 Jahren seit Bestehen bildete die Schule 823 Blindenführhunde aus, 158 Führgespanne stehen momentan im Einsatz. Seit diesem Jahr werden in der Blindenführhundeschule auch Assistenzhunde ausgebildet. Assistenzhunde leisten mobilitätsbehinderten Menschen Hilfestellungen, die diese aus eigener Kraft nicht oder nicht mehr bewältigen können. Sie heben Gegenstände vom Boden auf, betätigen Lichtschalter, öffnen und schliessen Türen oder helfen ihnen beim Auskleiden. Dadurch ermöglichen sie den Mobilitätsbehinderten mehr Selbstständigkeit und erhöhen deren Lebensqualität.

Quelle: weltdertiere.ch
© Helen Weiss ist freie Journalistin und arbeitet im Pressebüro Kohlenberg in Basel