Letzte Aktualisierung: 15. Oktober 2024 Text: Roman Huber
Wie viel Beschäftigung braucht der Hund? Wie viel ist gut, wie viel zu viel? Hundehalter sind bei diesen Fragen oft verunsichert. Wer die Antwort wissen will, der schaue sich seinen Hund genau an.
Strassen- und Wildhunde schlafen oder ruhen gemäss Studien bis 20 Stunden pro Tag. Davon träumen unsere Haushunde nur! Was sich rund um sie herum abspielt, hat oftmals wenig mit einem hundegerechten Dasein zu tun: Da herrschen Alltagshektik und Reizüberflutung, und letztlich Herrchen oder Frauchen, die, getrieben vom schlechten Gewissen, ihren Vierbeiner zu vernachlässigen, mit einem Mammut-Beschäftigungsprogramm aufwarten.
Qualität kommt vor Quantität, heisst die Grundregel. Doch ehe man sich versieht, ist man in der Beschäftigungsspirale drin. Das beginnt beim Welpen: Mit erhobenem Finger wird gemahnt, dass ein Welpe viel Neues kennenlernen müsse, und das in kurzer Zeit. Dabei möchte das der Familie entrissene Fellbündel am neuen Zuhause erst mal Sicherheit und Vertrauen finden und gute Erfahrungen machen. Doch es kommt anders: Der Kleine muss mit vielen Artgenossen spielen, damit er sozialisiert werde – womit aber meist das Gegenteil erreicht wird. Bleibt noch Zeit, muss nebst Spaziergängen, Spiel und Beschäftigung zu Hause und dem Erziehungskurs möglichst früh mit Hundesport begonnen werden. Es kommt noch schlimmer: Merkt der Halter im Laufe der Zeit, dass er seinen überdrehten Hund nicht mehr «in den Griff bekommt», erinnert er sich an den TV-Hundecoach, der da meinte: «Dann muss man ihn eben auspowern!»
Der Stress und die Hormone
Die Folge: Der Hund fällt danach in einen komaartigen Schlaf, ist aber, kaum erwacht, wieder voll auf Draht. Er kommt nicht zur Ruhe, vermag nur selten die vier Pfoten gleichzeitig auf dem Boden zu halten. Läutet es an der Haustür, überbordet er, ebenso, wenn´s auf den Spaziergang geht, wo er zu allen Artgenossen hinwill, an jedem Menschen hochspringt oder alles zusammenfressen muss.
Nimmt der Halter endlich den Ball aus der Tasche, dreht der Hund fast durch und jagt dem fliegenden Ding hinterher. Nach sechs, sieben Mal fordert der Ball-Junkie ultimativ bellend ein achtes, neuntes Mal. Wer diese Symptome bei seinem Hund entdeckt hat, sollte sich schleunigst Gedanken darüber machen, ob er dies wirklich aus Freude tut, oder nicht vielmehr aus purer Aufregung und Stress.
Gewisse Hunde-Beschäftigungen führen zu einem Adrenalin- Höchststand. Das Stresshormon baut sich in den Stunden danach ab. Folgt dann nicht genügend Ruhe, produziert der Körper zusätzlich die Hormone Noradrenalin, Dopamin und Cortisol. Diese Botenstoffe (Neurotransmitter) aktivieren gewisse Nervenzellen. Noradrenalin wirkt wie Adrenalin: Es steigert über längere Zeit Herzfrequenz und Blutdruck, aber auch Reizbarkeit, Erregung und Aggressivität. Zu viel Dopamin – auch Glückshormon genannt – erzeugt Unruhe, führt zu impulsivem Verhalten und zu Reaktivität (z. B. Leinenaggression). Zu viel Cortisol schwächt das Immunsystem, setzt die physische Widerstandskraft herunter und macht den Hund krankheitsanfällig.
Zu viel schadet dem Hund
Noch immer hört man, Hunde müssten müde gemacht werden, damit sie gehorchen. Vielfach geschieht das mit übertriebenem Spiel, zu viel Trainings und ständigen Kommandos. Dabei setzen viele Halter den Hund unter Druck, damit sie ihre ehrgeizigen Ziele erreichen.
Verhaltenstrainer und Tierärzte kennen das Ergebnis: Ein Teil ihrer Kundschaft besteht aus Hunden, die nicht zur Ruhe kommen und im Alltag Verhaltensprobleme oder Krankheitssymptome zeigen, die auf Überbeschäftigung, zu viel Bewegung und falsche Belastungen zurückzuführen sind.
Die Verhaltensweisen reichen vom Dauerbellen über In- die-Leine-Springen bei Begegnungen mit Artgenossen bis zum gesamten Spektrum der Reaktivität (defensives oder offensives Aggressionsverhalten). Es ist die natürliche Reaktion auf äussere Reize (Unsicherheit, Angst, Aggression) oder innere Reize (Stress, Schmerzen, Krankheit). Zu viel Beschäftigung kann dem Hund wortwörtlich auf den Magen schlagen, sich in Erbrechen und durchfallartigem Kot äussern oder zu Kreislauf-, Nieren- und anderen Problemen führen, so auch am Bewegungsapparat.
Hunde sind Individuen
Es gibt keine allgemeingültigen Angaben über den idealen Umfang oder die richtige Art der Beschäftigung. Rasse, Alter und Gesundheitszustand geben zwar gute Hinweise, doch sind Hunde in erster Linie Individuen. Wer die Körpersprache und Signale seines Hundes kennt und ihn und sein Energielevel vor, während sowie nach der Beschäftigung beobachtet, kann sich ein Bild über das Wohlbefinden machen und das richtige Mass an Beschäftigung erspüren.
Könnten unsere Haushunde frei wählen, würden sie zweifellos mehr Ruhe bevorzugen. Statt vom Menschen erfundene Sportarten ausüben, würden sie lieber mit ihm über Wiesen, Felder und durch Wälder streifen, Gerüche erkunden, Spuren verfolgen und das Zusammensein geniessen. Joggen, Hundesport oder Wanderungen mit dem Hund seien damit nicht verteufelt, wenn dies gut aufgebaut und vernünftig umgesetzt wird, sorgfältig in der Intensität und mit genügend Pausen.
Bewegung und Beschäftigung haben auf die Physiologie wie auf das Verhalten einen Einfluss. Wölfe oder wild lebende Hunde bevorzugen auf ihren Erkundungen einen leichten Trab, verfallen wiederholt in eine langsame Gangart, wenn sie Spuren analysieren, und rennen los, wenn es mal etwas zu jagen gibt. Aus physiologischer Sicht sollte man dem Hund darum verschiedene Bewegungsarten ermöglichen, angepasst an Alter, Tagesform und Temperatur.
Mentale Beschäftigung
oder auch gar nix
Beschäftigungen wie Sucharbeiten, die auch drinnen möglich sind, unterstützen Gleichgewicht, Eigenständigkeit und Selbstvertrauen eines Hundes. Damit wird ein ruhiges Verhalten im Alltag gefördert. Laut Verhaltensbiologen findet bei mentaler Beschäftigung (Kopf- und Nasenarbeit) ein Mehrfaches an Auslastung gegenüber der Bewegung statt. Zehn Minuten mentale Arbeit sind mit mindestens 45 Minuten Spaziergang gleichzusetzen.
Ein Spaziergang macht den Hund ausgeglichen, wenn er nach Herzenslust schnüffeln kann, nicht immer weggezogen wird, wenn er mal nach Mäusen gräbt, über Baumstämme oder Mauern balanciert, steile Borde erklimmt, und das in seinem Tempo.
Hunde sagen es oft flehend und in aller Deutlichkeit: «Mensch, mach mich nicht fertig!» Es geht um die Gesamtbilanz der Alltagsbelastung. Darauf weist wiederholt auch Hundepsychologe Anders Hallgren hin, Autor von rund 30 Hundebüchern. Im Klartext: Den Stress des wöchentlichen Hundeplatz-Trainings, wenn Pause mit Ruhe folgt, steckt der Hund weg, nicht aber den Dauerstress, wenn zu Hause ständige Unruhe und Betrieb dazukommen. Und würde man sich vertieft Gedanken über die Bedürfnisse der Hunde machen, so sähe deren Alltag wohl ohnehin anders aus.
Quelle: weltdertiere.ch
© Roman Huber ist Publizist und Verhaltenstrainer Hund-Mensch bei dogrelax.